OutofTime

Aus den Tagebüchern des Comte Étienne de Bouzonville
Kunst als Wissenschaft des schöpferischen Menschen.
Anmerkungen zum Werk von Picasso.

„Inspiration ist lebendig werden des Materials“. (M. Schmid)

Picasso ist einer der Hauptvertreter der analytischen Phase der europäischen Kunst, die mit van Gogh und Cézanne begann und bis in die 60er Jahre andauerte, eine Phase, in der die Künstler die formalen Grundlagen der Kunst das erste Mal konsequent reflektierten und vielfältige Antworten vorstellten. Es gibt unterschiedliche Aspekte in Picassos Werk und an der Zahl der Veröffentlichungen lässt sich ablesen, dass es viele Wege der Annäherung gibt.

Wir möchten in den folgenden Anmerkungen ein Element ins Zentrum stellen, die Genese des Gegenstands aus abstrakten Formen im spontanen Malprozess, ohne rationale Steuerung. Überliefert in dem bekannten Zitat, „Es gibt Maler, die aus der Sonne einen gelben Fleck machen und es gibt Maler, die aus einem gelben Fleck eine Sonne machen“. Der umgekehrte Vorgang der Abstraktion, wie man ihn z. B. an Mondrians Baumstudien sehen kann. Bei Picasso dagegen geht es nicht um Abstrahierung natürlicher Formen, sondern um die Verkörperung abstrakter Formen.

Parallel zu diesem vertikalen Aufbau des Gegenstands von der Basis der abstrakten Form zum identifizierbaren konkreten Gegenstand, ist der Metapherncharakter des Gegenstands und der Form zu sehen. Dieser Metapherncharakter schafft horizontale Verwandschaftssysteme auf verschiedenen Ebenen der Formen und Gegenstände und entspricht in etwa dem Reim in der Lyrik. Es entsteht eine schein-magische Welt. Schein-magisch, weil sie nicht vorwissenschaftlich, aber einen Bestandteil unserer psychischen Welt darstellt.

Das bedeutet, dass man an Picassos Werk sehen kann, wie unsere Psyche selbsttätig, ohne eigenes Zutun, aus abstrakten Formen eine gegenständliche Welt baut. Im Prinzip ein elementarer physiologischer Vorgang, wenn man bedenkt, dass unser Sehbild auf der Retina abstrakt und flächig ist und unser Gehirn, vielleicht entwicklungsbiologisch bedingt, die uns vertraute Welt daraus so aufbaut, dass wir uns sorglos in ihr bewegen können. Und schon im Kindesalter malen wir uns tiefer in diese physiologisch entstandene Welt hinein, machen sie zu einer poetischen. Auch bei Kindern kann etwa ein blauer Fleck eine realistische Darstellung von Dornröschen sein. Diese bildende Aktivität des Menschen im Kindesalter ist jedoch vorkulturell und es wäre falsch Picasso auf diese Entwicklungsstufe zurückzuführen. Picassos Werk ist ein Gesang auf die Entwicklung der europäischen Kultur, alle produzierten Werke sind durch ihn hindurchgegangen. Deshalb gibt uns sein Schaffen Aufschluss über unser Erleben der Welt, seit jeher das zentrale Thema der Künstler.

„Sans doute existera-t-il un jour une science, que l’on appellera peut-être ‚la science de l’homme‘ qui cherchera à pénétrer plus avant l’homme à travers l’homme créateur…Je pense souvent à cette science et je tiens à laisser à la postérité une documentation aussi complète que possible.“
„Zweifellos wird es eines Tages eine Wissenschaft geben, die man vielleicht 'die Wissenschaft vom Menschen' nennen und die versuchen wird, durch den schöpferischen Menschen tiefer in den Menschen einzudringen...Ich denke oft an diese Wissenschaft und möchte der Nachwelt eine möglichst vollständige Dokumentation hinterlassen.“

Von Künstlern wie Picasso können wir lernen, wie wir die Welt erleben, nicht die objektiv gegebene, die zu untersuchen, ist die Aufgabe der Wissenschaften. Dass diese subjektive, poetische Welt nicht willkürlich und ein beliebiges Fantasieprodukt ist, sondern eine Logik und Grammatik besitzt und Anspruch erheben kann Gültigkeit über den Maler hinaus zu haben, läßt sich an allen Meisterwerken ablesen. Musil nennt diese poetische Logik, „die gleitende Logik der Seele“.

Um den Vorgang der Inspiration in der Spontaneität, im materialgesteuerten Produktionsprozess zu veranschaulichen, wünschte sich Picasso die Zwischenstufen seiner Bilder zeigen zu können, deshalb die vielen Serien oder auch der Film von Clouzot, in dem er diesen Vorgang demonstrieren konnte.

Si je peins tant de toiles, c’est que je cherche la spontanéité.
J’aime tout ce qui continue.
(Wenn ich so viele Bilder male, dann, weil ich die Spontaneität suche.
Ich liebe alles, was weitergeht.)

1955 schmeichelt Salvador Dali in einem Vortrag an der Sorbonne seiner französischen Zuhörerschaft unter Applaus mit den Worten, dass Frankreich das intelligenteste Land der Welt ist, weil es das rationalste Land der Welt ist. Dann fügt er hinzu, dass er selber aber aus Spanien käme, dem irrationalsten und mystischsten Land der Welt.
Weiter sagt er: „Es ist deshalb gut und notwendig, dass ab und zu Spanier wie Picasso und ich nach Paris kamen, um Sie zu verblüffen, indem wir Ihnen ein rohes, blutendes Stück Wahrheit zeigten".

In seinem Frühwerk kann man noch sehen, dass Picasso zur Jugendstilgeneration gehört, welche das Problem der Umsetzung von Raum in die Fläche zum Thema hatte. Eine konsequente Lösung für dieses Problem entwickelt Picasso zusammen mit Braque im analytischen Kubismus. Aus diesem engen System befreit er sich mit den „Demoiselles d’Avignon“, ein Prostituierten Bild, mit formalen Bezügen zur afrikanischen Kunst, ausgehend von einer großen Ausstellung afrikanischer Kunst im Musée de l’Homme in Paris. Ein Einbruch der rohen, blutigen Wahrheit, des Archaischen in sein Werk. Erkenntnisse über die unbewussten Anteile unserer Psyche am Gestaltungsprozess - auch in anderen Bewegungen der Epoche zu beobachten. Spontaneität und Automatismus waren an der Tagesordnung. Bei den Surrealisten, bei Wols, de Kooning, Pollock, der Cobra-Gruppe, Sonderborg und später Stöhrer, Platschek und anderen.
Bezogen auf den Automatismus hatte Picasso immer eine gewisse Nähe zur surrealistischen Gruppe von Breton ohne ihr direkt anzugehören.

An diesem Punkt wären noch Picassos beide Theaterstücke zu erwähnen. „Le Désir attrapé par la queue“ (Wie man das Glück beim Schwanz packt) und „Les Quatre Petites Filles“ (Die vier kleinen Mädchen). Letzteres wurde vollständig in automatischer Schrift verfasst, nach dem Vorbild von Bretons und Soupaults „Les champs magnétiques“. Texte ohne Beteiligung des rationalen Bewusstseins, um an die unbewussten Schichten unserer Psyche zu gelangen, im Gefolge von Freuds Untersuchungen zum Funktionsmechanismus des seelischen Apparats.

Picasso bleibt aber bei aller blutigen Rohheit ein mediterraner Künstler, der griechisch-römischen Kultur verpflichtet. Vielleicht kann man spekulieren, dass Picasso die wilden Wurzeln der Klassik freilegt und sie aus ihrem Korsett befreit hat, oder, um im Kontext zu bleiben: Picasso greift den wilden, dionysischen Aspekt der griechischen Kultur auf. Er bleibt aber gleichzeitig der apollinischen Seite verhaftet, an einigen seiner Phasen zu sehen und an seiner Wertschätzung für Ingres und Poussin. Letzterer verbindet ihn wiederum mit Cézanne, der Poussin nach der Natur malen wollte. Mit Cézanne verbindet ihn auch die Trennung und Reduzierung der Formen, anders als Matisse und van Gogh, die zwar ebenfalls die Trennung der Formen einführten, aber deren Vermehrung suchten. Alle vier wegweisende Maler, auf die sich die folgenden Generationen beziehen.

„La peinture est plus forte que moi, elle me fait faire ce qu’elle veut“.
(Die Malerei ist stärker als ich, sie macht mit mir, was sie will.)
Bei Pessoa heißt es während eines Spaziergangs durch Lissabon, „Ich lasse mich treiben, bin ganz sinnliche Aufmerksamkeit, ohne Gedanken und ohne Gefühl“.

Obwohl aus fast unübersichtlichen Linien und Flächen bestehend, identifizieren wir auf den ersten Blick eine halbnackte Frau auf einem Stuhl sitzend mit Strohhut, einem Fisch auf dem Schoß und mit rot lackierten Fingernägeln. Vielleicht löst sich dieses Gebilde beim zweiten Blick wieder in Linien und Farbflecken auf. Und fügt sich beim dritten Blick wieder zusammen. Der Betrachter wird in eine Welt der Unbestimmtheit geworfen, komplex gestaltet, jenseits unseres Verlangens einer gesicherten Welt gegenüber zu treten. Unser Auge wird verunsichert, weil es nach eindeutigen Bestimmungen sucht. Viele herab wertende Fluchtwege eröffnen sich, wie, „meine Kinder können das auch“.
Doch unser Empfinden bleibt, die Unbestimmtheit zwischen oder der Übergang von abstrakten Formen, Texturen zu gegenständlichen Bedeutungen sind fließend bei Picasso. Seine Formenwelt ist uneindeutig. So auch die Gegenstandsbedeutungen. Beispielsweise Fisch und Unterarm.
Man liest oft, dass Picassos Gesichter stereoskopisch gestaltet sind und meint damit, dass Vorderansicht und Profil gleichzeitig vorkommen. Wie man hier sehen kann, geht es um etwas anderes, es sind im Prinzip zwei Gesichter, die ineinander verwoben sind, zwei Gesichter in einem, eine Verdoppelung und eine Vereinigung, Trennung und Ergänzung zugleich. In anderen Beispielen ist dieses zweite Gesicht dunkel dargestellt, die Schattenseite der Figur, eine andere psychische Seite, ein schattenhafter Doppelgänger.
Dazu Picasso selbst: „Quand je peins une femme dans un fauteuil, c’est la vieillesse et la mort.“
(Wenn ich eine Frau im Sessel male, dann ist es das Alter und der Tod.)

In einer flächigen Welt gibt es nichts Hinzugedachtes, nur das Gezeigte ist vorhanden. So erklären sich Picassos Gesichter. Wird in einer flächigen Welt ein Kopf im Profil gezeigt, dann fehlt ihm ein Auge, es wird ein einäugiger Kopf, die Psyche des Malers findet im Malprozess Wege eine solche Verstümmelung zu umgehen, ansonsten hinterlässt sie Angst beim Maler, von manchen Künstlern beschrieben. Und zwingt ihn irgendwo eine Augenform einzufügen, was nichts mit gleichzeitiger Darstellung von Frontal- und Profilansicht zu tun hat. Es geht um psychische Automatismen.

Am nebenstehenden Bildausschnitt kann man sehen, wie Picassos Psyche das fehlende Auge ergänzt, eindeutig im Falle der Frau und mit einem anderen Gegenstandsbezug beim Hut der männlichen Nachtfigur, eine Art Mond, der gleichzeitig zum Hut gehört und das zweite Auge der männlichen Figur verkörpert. Ambivalent und unbestimmt. Eindeutigkeit gibt es nur in einer begrifflichen Welt. Hier dagegen eine verbindende Gegenüberstellung von männlich und weiblich, im Bild eine Gesamtfigur. Beziehungen lassen sich im chinesischen Modell von Yin und Yang finden. Eine kosmische Dimension der Ganzheit, wie sie in allen Kulturmodellen vorkommt.

Man kann aus all dem schließen, dass unsere Psyche in der Hingabe an das Material im spontanen Malprozess versucht ein Ganzes herzustellen. Die als gebrochen erlebte Welt in einen Zusammenhang zu stellen. Picassos Bilder sind das Produkt einer Entfremdung mit der Objektwelt, die zu einer rein psychischen wird und nicht mehr die Objektivität Dürers zum Beispiel hat, der sich in den realen Objekten wiederfinden konnte. Unsere Zeit bietet diesen Zustand nicht mehr. Diese Paradoxien reihen Picasso in die Linie der manieristischen Strömungen innerhalb der Kulturgeschichte ein. Wie Kafka, Joyce, Musil, Pessoa, Beckett und andere.

Kunsthistoriker wie John Berger haben Picasso mangelnde Kreativität mit zunehmenden Alter vorgehalten, bedingt durch seine wachsende Vereinsamung. Dabei haben sie nicht berücksichtigt, dass die meisten Künstler die Einsamkeit brauchten, um schaffen zu können. „Je ne peux que travailler seul. Il fault que je vive mon travail. Et cela ne se peut que dans la solitude“. (Ich kann nur alleine arbeiten. Ich muss meine Arbeit leben. Und das kann nur in der Einsamkeit geschehen.)
In dieser vermeintlichen Vereinsamung hat Picasso eines der beeindruckendsten Werke geschaffen, in dem wir uns, wenn wir mögen, spiegelnd selber befragen und betrachten können, wenn auch gebrochen, vielfach gespiegelt und zentrifugal, wie in einem venezianischen Spiegel.

Index






Kunst als Wissenschaft des schöpferischen Menschen.
Anmerkungen zum Werk von Picasso.

„Inspiration ist lebendig werden des Materials“. (M. Schmid)

Picasso ist einer der Hauptvertreter der analytischen Phase der europäischen Kunst, die mit van Gogh und Cézanne begann und bis in die 60er Jahre andauerte, eine Phase, in der die Künstler die formalen Grundlagen der Kunst das erste Mal konsequent reflektierten und vielfältige Antworten vorstellten. Es gibt unterschiedliche Aspekte in Picassos Werk und an der Zahl der Veröffentlichungen lässt sich ablesen, dass es viele Wege der Annäherung gibt.

Wir möchten in den folgenden Anmerkungen ein Element ins Zentrum stellen, die Genese des Gegenstands aus abstrakten Formen im spontanen Malprozess, ohne rationale Steuerung. Überliefert in dem bekannten Zitat, „Es gibt Maler, die aus der Sonne einen gelben Fleck machen und es gibt Maler, die aus einem gelben Fleck eine Sonne machen“. Der umgekehrte Vorgang der Abstraktion, wie man ihn z. B. an Mondrians Baumstudien sehen kann. Bei Picasso dagegen geht es nicht um Abstrahierung natürlicher Formen, sondern um die Verkörperung abstrakter Formen.

Parallel zu diesem vertikalen Aufbau des Gegenstands von der Basis der abstrakten Form zum identifizierbaren konkreten Gegenstand, ist der Metapherncharakter des Gegenstands und der Form zu sehen. Dieser Metapherncharakter schafft horizontale Verwandschaftssysteme auf verschiedenen Ebenen der Formen und Gegenstände und entspricht in etwa dem Reim in der Lyrik. Es entsteht eine schein-magische Welt. Schein-magisch, weil sie nicht vorwissenschaftlich, aber einen Bestandteil unserer psychischen Welt darstellt.

Das bedeutet, dass man an Picassos Werk sehen kann, wie unsere Psyche selbsttätig, ohne eigenes Zutun, aus abstrakten Formen eine gegenständliche Welt baut. Im Prinzip ein elementarer physiologischer Vorgang, wenn man bedenkt, dass unser Sehbild auf der Retina abstrakt und flächig ist und unser Gehirn, vielleicht entwicklungsbiologisch bedingt, die uns vertraute Welt daraus so aufbaut, dass wir uns sorglos in ihr bewegen können. Und schon im Kindesalter malen wir uns tiefer in diese physiologisch entstandene Welt hinein, machen sie zu einer poetischen. Auch bei Kindern kann etwa ein blauer Fleck eine realistische Darstellung von Dornröschen sein. Diese bildende Aktivität des Menschen im Kindesalter ist jedoch vorkulturell und es wäre falsch Picasso auf diese Entwicklungsstufe zurückzuführen. Picassos Werk ist ein Gesang auf die Entwicklung der europäischen Kultur, alle produzierten Werke sind durch ihn hindurchgegangen. Deshalb gibt uns sein Schaffen Aufschluss über unser Erleben der Welt, seit jeher das zentrale Thema der Künstler.

„Sans doute existera-t-il un jour une science, que l’on appellera peut-être ‚la science de l’homme‘ qui cherchera à pénétrer plus avant l’homme à travers l’homme créateur…Je pense souvent à cette science et je tiens à laisser à la postérité une documentation aussi complète que possible.“
„Zweifellos wird es eines Tages eine Wissenschaft geben, die man vielleicht 'die Wissenschaft vom Menschen' nennen und die versuchen wird, durch den schöpferischen Menschen tiefer in den Menschen einzudringen...Ich denke oft an diese Wissenschaft und möchte der Nachwelt eine möglichst vollständige Dokumentation hinterlassen.“

Von Künstlern wie Picasso können wir lernen, wie wir die Welt erleben, nicht die objektiv gegebene, die zu untersuchen, ist die Aufgabe der Wissenschaften. Dass diese subjektive, poetische Welt nicht willkürlich und ein beliebiges Fantasieprodukt ist, sondern eine Logik und Grammatik besitzt und Anspruch erheben kann Gültigkeit über den Maler hinaus zu haben, läßt sich an allen Meisterwerken ablesen. Musil nennt diese poetische Logik, „die gleitende Logik der Seele“.

Um den Vorgang der Inspiration in der Spontaneität, im materialgesteuerten Produktionsprozess zu veranschaulichen, wünschte sich Picasso die Zwischenstufen seiner Bilder zeigen zu können, deshalb die vielen Serien oder auch der Film von Clouzot, in dem er diesen Vorgang demonstrieren konnte.

Si je peins tant de toiles, c’est que je cherche la spontanéité.
J’aime tout ce qui continue.
(Wenn ich so viele Bilder male, dann, weil ich die Spontaneität suche.
Ich liebe alles, was weitergeht.)

1955 schmeichelt Salvador Dali in einem Vortrag an der Sorbonne seiner französischen Zuhörerschaft unter Applaus mit den Worten, dass Frankreich das intelligenteste Land der Welt ist, weil es das rationalste Land der Welt ist. Dann fügt er hinzu, dass er selber aber aus Spanien käme, dem irrationalsten und mystischsten Land der Welt.
Weiter sagt er: „Es ist deshalb gut und notwendig, dass ab und zu Spanier wie Picasso und ich nach Paris kamen, um Sie zu verblüffen, indem wir Ihnen ein rohes, blutendes Stück Wahrheit zeigten".

In seinem Frühwerk kann man noch sehen, dass Picasso zur Jugendstilgeneration gehört, welche das Problem der Umsetzung von Raum in die Fläche zum Thema hatte. Eine konsequente Lösung für dieses Problem entwickelt Picasso zusammen mit Braque im analytischen Kubismus. Aus diesem engen System befreit er sich mit den „Demoiselles d’Avignon“, ein Prostituierten Bild, mit formalen Bezügen zur afrikanischen Kunst, ausgehend von einer großen Ausstellung afrikanischer Kunst im Musée de l’Homme in Paris. Ein Einbruch der rohen, blutigen Wahrheit, des Archaischen in sein Werk. Erkenntnisse über die unbewussten Anteile unserer Psyche am Gestaltungsprozess - auch in anderen Bewegungen der Epoche zu beobachten. Spontaneität und Automatismus waren an der Tagesordnung. Bei den Surrealisten, bei Wols, de Kooning, Pollock, der Cobra-Gruppe, Sonderborg und später Stöhrer, Platschek und anderen.
Bezogen auf den Automatismus hatte Picasso immer eine gewisse Nähe zur surrealistischen Gruppe von Breton ohne ihr direkt anzugehören.

An diesem Punkt wären noch Picassos beide Theaterstücke zu erwähnen. „Le Désir attrapé par la queue“ (Wie man das Glück beim Schwanz packt) und „Les Quatre Petites Filles“ (Die vier kleinen Mädchen). Letzteres wurde vollständig in automatischer Schrift verfasst, nach dem Vorbild von Bretons und Soupaults „Les champs magnétiques“. Texte ohne Beteiligung des rationalen Bewusstseins, um an die unbewussten Schichten unserer Psyche zu gelangen, im Gefolge von Freuds Untersuchungen zum Funktionsmechanismus des seelischen Apparats.

Picasso bleibt aber bei aller blutigen Rohheit ein mediterraner Künstler, der griechisch-römischen Kultur verpflichtet. Vielleicht kann man spekulieren, dass Picasso die wilden Wurzeln der Klassik freilegt und sie aus ihrem Korsett befreit hat, oder, um im Kontext zu bleiben: Picasso greift den wilden, dionysischen Aspekt der griechischen Kultur auf. Er bleibt aber gleichzeitig der apollinischen Seite verhaftet, an einigen seiner Phasen zu sehen und an seiner Wertschätzung für Ingres und Poussin. Letzterer verbindet ihn wiederum mit Cézanne, der Poussin nach der Natur malen wollte. Mit Cézanne verbindet ihn auch die Trennung und Reduzierung der Formen, anders als Matisse und van Gogh, die zwar ebenfalls die Trennung der Formen einführten, aber deren Vermehrung suchten. Alle vier wegweisende Maler, auf die sich die folgenden Generationen beziehen.

„La peinture est plus forte que moi, elle me fait faire ce qu’elle veut“.
(Die Malerei ist stärker als ich, sie macht mit mir, was sie will.)
Bei Pessoa heißt es während eines Spaziergangs durch Lissabon, „Ich lasse mich treiben, bin ganz sinnliche Aufmerksamkeit, ohne Gedanken und ohne Gefühl“.

Obwohl aus fast unübersichtlichen Linien und Flächen bestehend, identifizieren wir auf den ersten Blick eine halbnackte Frau auf einem Stuhl sitzend mit Strohhut, einem Fisch auf dem Schoß und mit rot lackierten Fingernägeln. Vielleicht löst sich dieses Gebilde beim zweiten Blick wieder in Linien und Farbflecken auf. Und fügt sich beim dritten Blick wieder zusammen. Der Betrachter wird in eine Welt der Unbestimmtheit geworfen, komplex gestaltet, jenseits unseres Verlangens einer gesicherten Welt gegenüber zu treten. Unser Auge wird verunsichert, weil es nach eindeutigen Bestimmungen sucht. Viele herab wertende Fluchtwege eröffnen sich, wie, „meine Kinder können das auch“.
Doch unser Empfinden bleibt, die Unbestimmtheit zwischen oder der Übergang von abstrakten Formen, Texturen zu gegenständlichen Bedeutungen sind fließend bei Picasso. Seine Formenwelt ist uneindeutig. So auch die Gegenstandsbedeutungen. Beispielsweise Fisch und Unterarm.
Man liest oft, dass Picassos Gesichter stereoskopisch gestaltet sind und meint damit, dass Vorderansicht und Profil gleichzeitig vorkommen. Wie man hier sehen kann, geht es um etwas anderes, es sind im Prinzip zwei Gesichter, die ineinander verwoben sind, zwei Gesichter in einem, eine Verdoppelung und eine Vereinigung, Trennung und Ergänzung zugleich. In anderen Beispielen ist dieses zweite Gesicht dunkel dargestellt, die Schattenseite der Figur, eine andere psychische Seite, ein schattenhafter Doppelgänger.
Dazu Picasso selbst: „Quand je peins une femme dans un fauteuil, c’est la vieillesse et la mort.“
(Wenn ich eine Frau im Sessel male, dann ist es das Alter und der Tod.)

In einer flächigen Welt gibt es nichts Hinzugedachtes, nur das Gezeigte ist vorhanden. So erklären sich Picassos Gesichter. Wird in einer flächigen Welt ein Kopf im Profil gezeigt, dann fehlt ihm ein Auge, es wird ein einäugiger Kopf, die Psyche des Malers findet im Malprozess Wege eine solche Verstümmelung zu umgehen, ansonsten hinterlässt sie Angst beim Maler, von manchen Künstlern beschrieben. Und zwingt ihn irgendwo eine Augenform einzufügen, was nichts mit gleichzeitiger Darstellung von Frontal- und Profilansicht zu tun hat. Es geht um psychische Automatismen.

Am nebenstehenden Bildausschnitt kann man sehen, wie Picassos Psyche das fehlende Auge ergänzt, eindeutig im Falle der Frau und mit einem anderen Gegenstandsbezug beim Hut der männlichen Nachtfigur, eine Art Mond, der gleichzeitig zum Hut gehört und das zweite Auge der männlichen Figur verkörpert. Ambivalent und unbestimmt. Eindeutigkeit gibt es nur in einer begrifflichen Welt. Hier dagegen eine verbindende Gegenüberstellung von männlich und weiblich, im Bild eine Gesamtfigur. Beziehungen lassen sich im chinesischen Modell von Yin und Yang finden. Eine kosmische Dimension der Ganzheit, wie sie in allen Kulturmodellen vorkommt.

Man kann aus all dem schließen, dass unsere Psyche in der Hingabe an das Material im spontanen Malprozess versucht ein Ganzes herzustellen. Die als gebrochen erlebte Welt in einen Zusammenhang zu stellen. Picassos Bilder sind das Produkt einer Entfremdung mit der Objektwelt, die zu einer rein psychischen wird und nicht mehr die Objektivität Dürers zum Beispiel hat, der sich in den realen Objekten wiederfinden konnte. Unsere Zeit bietet diesen Zustand nicht mehr. Diese Paradoxien reihen Picasso in die Linie der manieristischen Strömungen innerhalb der Kulturgeschichte ein. Wie Kafka, Joyce, Musil, Pessoa, Beckett und andere.

Kunsthistoriker wie John Berger haben Picasso mangelnde Kreativität mit zunehmenden Alter vorgehalten, bedingt durch seine wachsende Vereinsamung. Dabei haben sie nicht berücksichtigt, dass die meisten Künstler die Einsamkeit brauchten, um schaffen zu können. „Je ne peux que travailler seul. Il fault que je vive mon travail. Et cela ne se peut que dans la solitude“. (Ich kann nur alleine arbeiten. Ich muss meine Arbeit leben. Und das kann nur in der Einsamkeit geschehen.)
In dieser vermeintlichen Vereinsamung hat Picasso eines der beeindruckendsten Werke geschaffen, in dem wir uns, wenn wir mögen, spiegelnd selber befragen und betrachten können, wenn auch gebrochen, vielfach gespiegelt und zentrifugal, wie in einem venezianischen Spiegel.

Index
Art as the science of the creative human being.
Notes on the work of Picasso.

"Inspiration is the material coming alive". (M. Schmid)

Picasso is one of the main representatives of the analytical phase of European art, which began with van Gogh and Cézanne and lasted until the 1960s, a phase in which artists consistently reflected on the formal foundations of art for the first time and presented a variety of responses. There are different aspects to Picasso's work and from the number of publications we can see that there are many ways of approaching it.

In the following remarks we would like to focus on one element, the genesis of the subject from abstract forms in the spontaneous process of painting, without rational control. Passed down in the well-known quote, "There are painters who make a yellow spot out of the sun and there are painters who make a sun out of a yellow spot". The reverse process of abstraction, as can be seen in Mondrian's tree studies, for example. Picasso, on the other hand, is not concerned with abstracting natural forms, but with embodying abstract forms.

Parallel to this vertical construction of the object from the basis of abstract form to the identifiable concrete object, is the metaphorical character of the object and the form. This metaphor character creates horizontal kinship systems on different levels of forms and objects and corresponds roughly to rhyme in poetry. A seemingly magical world is created. Apparently-magical because it is not pre-scientific, but a component of our psychic world.

This means that we can see in Picasso's work how our psyche automatically builds a representational world out of abstract forms without any intervention on our part. In principle, this is an elementary physiological process, if you consider that our visual image on the retina is abstract and two-dimensional and that our brain, perhaps due to developmental biology, builds the world we are familiar with from this in such a way that we can move around in it without worrying. And already in childhood we paint ourselves deeper into this physiologically created world, make it a poetic one. Even in children, a bruise, for example, can be a realistic representation of Sleeping Beauty. However, this formative activity of the human being in childhood is pre-cultural and it would be wrong to attribute Picasso to this stage of development. Picasso's work is a song to the development of European culture, all the works produced have passed through him. Therefore, his work gives us insight into our experience of the world, always the central theme of artists.

"Sans doute existera-t-il un jour une science, que l'on appellera peut-être 'la science de l'homme' qui cherchera à pénétrer plus avant l'homme à travers l'homme créateur...Je pense souvent à cette science et je tiens à la la postérité une documentation aussi complète que possible."
"No doubt one day there will be a science which may be called 'the science of man' and which will try to penetrate more deeply into man through the creative man...I often think of this science and I want to leave to posterity a documentation as complete as possible."

From artists like Picasso we can learn how to experience the world, not the objectively given one, which is the task of the sciences to investigate. That this subjective, poetic world is not arbitrary and an arbitrary product of fantasy, but has a logic and grammar and can claim to have validity beyond the painter, can be seen in all masterpieces. Musil calls this poetic logic, "the sliding logic of the soul".

In order to illustrate the process of inspiration in spontaneity, in the material-controlled production process, Picasso wished to be able to show the intermediate stages of his paintings, hence the many series or Clouzot's film in which he could demonstrate this process.

Si je peins tant de toiles, c'est que je cherche la spontanéité.
J'aime tout ce qui continue.
(If I paint so many pictures, it is because I seek spontaneity.
I love everything that continues).

In 1955, in a lecture at the Sorbonne, Salvador Dali flatters his French audience to applause by saying that France is the most intelligent country in the world because it is the most rational country in the world. He then adds that he himself, however, comes from Spain, the most irrational and mystical country in the world.
He goes on to say: "It is therefore good and necessary that from time to time Spaniards like Picasso and myself came to Paris to amaze you by showing you a raw, bleeding piece of truth".

In his early work, one can still see that Picasso belongs to the Art Nouveau generation, which was concerned with the problem of translating space into surface. Picasso developed a consistent solution to this problem together with Braque in analytical Cubism. He freed himself from this narrow system with the "Demoiselles d'Avignon", a painting of prostitutes with formal references to African art, based on a large exhibition of African art at the Musée de l'Homme in Paris. An intrusion of raw, bloody truth, of the archaic into his work. Insights into the unconscious parts of our psyche in the creative process - also to be observed in other movements of the epoch. Spontaneity and automatism were the order of the day. In the Surrealists, in Wols, de Kooning, Pollock, the Cobra group, Sonderborg and later Stöhrer, Platschek and others.
In terms of automatism, Picasso always had a certain proximity to Breton's surrealist group without belonging to it directly.

At this point, Picasso's two plays should be mentioned. "Le Désir attrapé par la queue (How to Grab Happiness by the Tail) and Les Quatre Petites Filles (The Four Little Girls). The latter was written entirely in automatic script, modelled on Breton and Soupault's "Les champs magnétiques". Texts without the involvement of rational consciousness to access the unconscious layers of our psyche, in the wake of Freud's investigations into the functioning mechanism of the mental apparatus.

Picasso, however, for all his bloody rawness, remains a Mediterranean artist, indebted to Greco-Roman culture. Perhaps one can speculate that Picasso uncovered the wild roots of classicism and freed it from its corset, or, to stay in context: Picasso picks up the wild, Dionysian aspect of Greek culture. At the same time, however, he remains attached to the Apollonian side, as can be seen in some of his phases and in his appreciation of Ingres and Poussin. The latter in turn connects him with Cézanne, who wanted to paint Poussin after nature. He also shares with Cézanne the separation and reduction of forms, unlike Matisse and van Gogh, who also introduced the separation of forms but sought their multiplication. All four pioneering painters to whom the following generations refer.

"La peinture est plus forte que moi, elle me fait faire ce qu'elle veut".
(Painting is stronger than me, it does to me what it wants).
In Pessoa's work, during a walk through Lisbon, "I let myself drift, I am all sensual attention, without thought and without feeling".

Although made up of almost confusing lines and planes, at first glance we identify a half-naked woman sitting on a chair with a straw hat, a fish on her lap and her fingernails painted red. Perhaps, at second glance, this structure dissolves again into lines and spots of colour. And reassembles itself at the third glance. The viewer is thrown into a world of indeterminacy, complexly designed, beyond our desire to face a secure world. Our eye is unsettled because it searches for unambiguous determinations. Many disparaging escape routes open up, such as "my children can do that too".
But our perception remains, the indeterminacy between or the transition from abstract forms, textures to representational meanings are fluid in Picasso. His world of forms is ambiguous. So are the object meanings. For example, fish and forearm.
One often reads that Picasso's faces are stereoscopic, meaning that front view and profile occur simultaneously. As you can see here, it is about something else, it is basically two faces interwoven, two faces in one, a doubling and a union, separation and completion at the same time. In other examples, this second face is depicted darkly, the shadow side of the figure, another psychic side, a shadowy double.
Picasso himself says: "Quand je peins une femme dans un fauteuil, c'est la vieillesse et la mort.
(When I paint a woman in an armchair, it is old age and death).

In a two-dimensional world there is nothing added, only what is shown is present. This explains Picasso's faces. If a head is shown in profile in a two-dimensional world, then it is missing an eye, it becomes a one-eyed head, the painter's psyche finds ways in the painting process to circumvent such a mutilation, otherwise it leaves fear in the painter, described by some artists. And forces him to insert an eye shape somewhere, which has nothing to do with simultaneous representation of frontal and profile views. It is a matter of psychological automatisms.

In the adjacent detail of the picture, one can see how Picasso's psyche supplements the missing eye, clearly in the case of the woman and with a different object reference in the case of the hat of the male night figure, a kind of moon that simultaneously belongs to the hat and embodies the second eye of the male figure. Ambivalent and indeterminate. Unambiguity only exists in a conceptual world. Here, on the other hand, a unifying juxtaposition of male and female, in the image an overall figure. Relationships can be found in the Chinese model of yin and yang. A cosmic dimension of wholeness, as found in all cultural models.

One can conclude from all this that our psyche, in devotion to the material, tries to produce a whole in the spontaneous painting process. To put the world, which is experienced as broken, into a context. Picasso's paintings are the product of an alienation with the world of objects, which becomes a purely psychological one and no longer has the objectivity of Dürer, for example, who was able to find himself in the real objects. Our time no longer offers this state. These paradoxes place Picasso in the line of mannerist currents within cultural history. Like Kafka, Joyce, Musil, Pessoa, Beckett and others.

Art historians such as John Berger have accused Picasso of lacking creativity as he grew older, due to his increasing isolation. They have not taken into account that most artists needed solitude in order to create. "Je ne peux que travailler seul. Il fault que je vive mon travail. Et cela ne se peut que dans la solitude". (I can only work alone. I have to live my work. And that can only happen in solitude).
In this supposed solitude, Picasso has created one of the most impressive works in which we can, if we like, mirroringly question and contemplate ourselves, albeit refracted, mirrored many times and centrifugally, as in a Venetian mirror.